Mittwoch, 28. Dezember 2005

Zerfall

Eindrücke sprechen mich an, ohne dass ich darauf reagieren kann.

Der Verstand, will er keinen Stau, dann fährt er unverdaute Eindrücke in einen Boxenstop des Unterbewußten und läßt sie auf diese Weise aus meinem Blickfeld verschwinden.

Der Eindruck aber arbeitet weiter, stellt Verbindungen zu alten Eindrücken her, arbeitet alles zu einem schrecklichen Traum um:

"Die ersten Bilder des Traumes schleichen sich an meinem Gedächnis vorbei. Das Fach bleibt leer, die Vorgeschichte bleibt aus.

In der nächsten Sequenz bin ich mit meiner Freundin in einem weiß gefliesten Raum. Sie ist schwer erkrankt, ich habe ihre Pflege übernommen.

Sie steht mir nah.

Sie liegt mir am Herzen.

Ihr Leid, es nagt an auch an meiner Substanz.

Es hat sie arg erwischt, sie ist geknickt.

"Laß den Kopf nicht hängen" ich muntere sie auf.
Ich weiß, was ich sage, ist eine Farce. Ich sehe sie verstohlen an und hoffe, sie kann mir meine Ohnmacht nicht ansehen. Nach außen strahle ich Optimismus aus, während innerlich die Verzweiflung an meiner Substanz nagt.

Ich warte schon auf die Ablösung der KrankenPflege. Ich muß mich erholen und einen neuen Stapel Substanz in Ruhe nachwachsen lassen.

Flüchtig sehe ich meine Freundin an, tue so, als hätte sie eine leichte Grippe. Über die dünne fahle Haut, die die Knochen zusammenhält, sehe ich hinweg. Diesen Anblick ertrage ich schon lange nicht mehr.

Ihr Kopf hängt tief über dem Waschbecken, viel zu tief.

"Hebe deinen Kopf" bitte ich sie. Kritisch sehe ich die oberen Halswirbel an, sie dehnen sich schon viel zu weit auseinander. Meine Freundin nickt mir mit gesenktem Kopf zu, verändert ihre Haltung dabei nicht.
"Du mußt deinen Kopf heben" sage ich schon etwas schärfer im Ton. Dieser Ton, er verursacht auch mir Schmerzen.

"Ja" antwortet meine Freundin mit schwacher Stimme "aber mir fehlt die Kraft, den Kopf zu heben. Er ist für meinen Körper zu schwer geworden"

Vor Ohnmacht frißt die Verzweiflung an meiner Substanz wie ein aufgeregtes Mädchen an den Fingernägeln. "Oh mein Gott, was soll ich nur mit ihr machen? Ihr Kopf hängt zu tief, ihre Knochen sind schon viel zu mürbe von der Krankheit" aber die Verzweiflungen weiß auch keinen Rat und ich kann meine Freundin nicht länger mit meinen Ermahnungen quälen, mir fehlt die mentale Kraft, schalte den Hebel auf Grippe um.

Ihr schwerer Kopf zieht nun ihren Oberkörper weiter nach unten. Mehr hängend als gebeugt steht meine Freundin am Waschbecken. Besorgt sehe ich auf die auseinander gedehnten Wirbelknochen im unteren Rücken an. Die viel zu dünne Haut wird sie nicht mehr lange zusammenhalten können.

"Richte dich auf" bitte ich meine Freundin. "Du stehst zu weit nach vorn gebeut, dass ist nicht gut für deinen schwachen Rücken" will ich ihr begreiflich machen und hoffe auf ihre Mitwirkung.
"Ja" antwortet sie mir wieder mit schwacher Stimme "du hast Recht" und bezeugt mir ihre Mitwirkungsabsicht. "Aber ich habe keine Kraft mehr, mich aufzurichten"

Die Verzweiflung knabbert weiter an meiner Substanz, die bis auf eine hauchdünne Schicht aufgebraucht und zerbrechlich wie ein ausgetrockenes Blatt geworden ist.

Ohnmächtig greife ich nach den Umschalter für harmlose Grippe und helfe meine Freundin weiter bei ihrer Morgentoilette. Ich befürchte, mein innerer Aufschrei schallt von den Fliesen des kalten Raumes aus allen Ecken wieder zurück und halte den Atem an.

Die Morgentoilette ist beendet und ich habe das Handtuch nicht zur Hand, muss es noch schnell vom Hacken holen, es ist nur 2 Meter vom Waschbecken entfernt.

Ein paar Schritte, ein Griff zum Handtuch.

Ein quälender Aufschrei geht in mehreren dumpfen Geräuschen unter.

Blitzschnell drehe ich mich um.

Grade sehe ich noch, wie sich der Rumpf meiner Freundin vom Unterkörper löst. Er fällt am Waschbeckenrand herunter, in dem schon der abgelöste Kopf mit weit aufgerissenen und verängstigten Augen liegt.

Ich schreie so laut ich kann, aber der Aufschrei kann den Verfall des Körpers nicht mehr aufhalten.
Stückweise zerbricht der Körper meiner Freundin vor meinen Augen und mit ihm auch meine nur noch hauchdünne Substanz an Hoffnung.

Für einen Moment möchte ich an der Stelle meiner Freundin sein, dann müsste ich mir das grauenvolle Bild ihres zerbrochenen Körpers nicht ansehen.....


LaWe

Trackback URL:
https://langeweile1.twoday.net/stories/1330630/modTrackback

Zufallsbild

Aktuelle Beiträge

Regelurwerke
Egal in welcher Lage oder Lebenslage, der Tag verlangt...
Lange-Weile - 21. Mai, 11:41
ErinnerungsVermögen
Seit Tagen warte ich auf einen ruhigen Moment um zu...
Lange-Weile - 21. Mai, 11:40
Tatsachen sind gnadenlos
Ein Telefonat, eine niederschmetternde Nachricht und...
Lange-Weile - 21. Mai, 11:38
teures Mitgefühl
Ab und zu bei weitergehenden Aufräumungsarbeiten finde...
Lange-Weile - 21. Mai, 11:38
kleine KampfHähne
Und wenn ich schon nach langer Zeit auf meiner eigenen...
Lange-Weile - 21. Mär, 00:26

Archiv

Dezember 2005
Mo
Di
Mi
Do
Fr
Sa
So
 
 
 
 1 
 2 
 3 
 4 
 5 
 6 
 7 
 9 
10
12
14
15
16
17
19
20
21
22
24
25
26
27
30
31
 
 
 

Überlebenskünste

RSS Box

🍒 Sauerkirsch-Pistazienkuche n mit Joghurt
Es gibt Geschmackserlebnisse, die lassen einen nicht...
Claudia - 20. Aug, 18:09
Spaghetti mit Frühlingsgemüse aus dem Garten
Das erste Gemüse des Jahres ist besonders. Man muss...
Claudia - 2. Jun, 20:07
Puntarelle mit Blutorangen
Tweet Beim Türken um die Ecke vom Schweizer Büro gibt...
Claudia - 3. Dez, 14:02
Rhabarber Tarte Tatin - oder upside down cake
Tweet Mich macht Rhabarber immer schon von seiner...
Claudia - 27. Apr, 22:54
Wildkräutersuppe - Gründonnerstagsuppe
TweetWildkräuter fand ich schon länger spannend. Im...
Claudia - 18. Apr, 21:42

User Status

Du bist nicht angemeldet.

Status

Online seit 6730 Tagen
Zuletzt aktualisiert: 13. Mai, 14:37

Spuren im Sand

Suche

 


Fragen, die sich stellen
Survival
Survival in StadtDschungel
ZeitZeichen
Profil
Abmelden
Weblog abonnieren